„Wir haben das Glück, hier in Tübingen zu sein: In einer Stadt, die erst einmal den Dialog sucht und nicht sofort räumt.“- Thea (22)
Audio: Die Familie Thalassinos
Immobilienmakler Oliver Frank über die Familienverhältnisse der Hausbesitzer
Wem gehört die Gartenstraße 7?Im Interview mit Oliver Frank
Nachdem sie ihren Laden aufgegeben hatte, zog Frau Thalassinos an den
Bodensee, nutzt die Gartenstraße 7 seitdem aber weiterhin als Zweitwohnsitz. Verkaufen
möchte die mittlerweile fast 99-Jährige das Generationenhaus ihrer Familie
nicht zu ihren Lebzeiten. „Keiner hat gedacht
–
sie auch nicht, dass sie noch so lange
lebt“, erzählt mir Oliver Frank. Als Immobilienmakler betreut er die
Familie Thalassinos schon seit 1998 und vertritt sie nun auch bei den laufenden
Verhandlungen zu der Hausbesetzung der Gartenstraße 7.
Gemeinsam mit der
Stadtverwaltung und den Hausbesetzer/innen bemüht er sich um eine Einigung, was mit
dem Haus geschehen soll, möchte sich mir als Reporterin aber zu den aktuellen
Verhandlungen nicht öffentlich äußern: „Mir brennt's zwar auf der Zunge, aber
ich will jetzt nichts machen, was man mir dann vorwerfen könnte.“ Sein
Misstrauen gegenüber den Medien wird mir bei unserem ersten Telefonat bewusst, als er nur kurz und zurückhaltend auf meine Fragen antwortete. Grund dafür sei die einseitige Berichterstattung, die laut ihm in unterschiedlichen
Nachrichten zum Ausdruck kommt und die die Familie Thalassinos in ein schlechtes
Bild rückt. Fakt ist, dass die Studierenden, Straßenkünstler/innen und
Arbeitslosen auf Kosten der Erbengemeinschaft in der Gartensia wohnen. Thea
betont, das die Besetzer/innen für Strom, Gas und Wasser bezahlen wollten.
Dies würde aber bedeuten, dass eine Person als Mieter eingetragen werden
müsste, damit die Nebenkosten rechtlich korrekt beglichen werden könnten. „Würden Sie, nachdem Sie Hausfriedensbruch begangen haben, Ihre kompletten
persönlichen Angaben für den Mietvertrag preisgeben?“, fragt mich Oliver
Frank und verzieht dabei keine Miene. Wo er Recht hat…Dabei stelle ich mir dann die Frage, weshalb die Erbengemeinschaft das Haus nicht längst
hat räumen lassen.
„Ich habe im Endeffekt nur über Vitamin B eine bezahlbare Wohnung gefunden“- Clarissa (22) wohnt momentan für 0€ Miete in der Gartensia
Tübingen zählt zu den 10 teuersten Städten Deutschlands Im Interview mit Axel Burkhardt
Schon lange kein
Geheimnis mehr und trotzdem noch immer ein großes Problem: Die angespannte
Wohnsituation in Tübingen. Als Wohnraumbeauftragter kümmert sich Axel Burkhardt
im Kern um die strategische Planung von Wohnraumentwicklung. „Tübingen ist
traditionell und seit vielen Jahren keine Stadt, in der es große
Wohnraumüberhänge gibt“, so beschreibt er die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Die Stadtstruktur, eine
dynamisch wachsende lokale Wirtschaft sowie die Attraktivität
–
gerade für
Studierende –
sind die Hauptgründe dafür, welche schließlich auch für ein steigendes Mietniveau verantwortlich sind.
Auch wenn die Lage
für Wohnungssuchende oft hoffnungslos scheint, bemüht sich die Stadt um
Abhilfe: Mit Förderprogrammen wie beispielsweise dem "Fairer Wohnen"
Programm. Hier gelten unter anderem bestimmte festgelegte Voraussetzungen für den
Neubau. Zudem fördert die Stadt damit die faire Nutzung von bereits bestehendem Wohnraum. Axel Burkhardt zeigt
sich zufrieden mit den Entwicklungen: „Wir sind eine
der wenigen Städte in Deutschland in der die Menge an gefördertem Wohnraum
nicht abnimmt, sondern zunimmt.“
Wenn Häuser leer stehen
–
Das Zweckentfremdungsverbot
Bei Wohnraummangel wirkt ungenutzer Wohnraum absurd. 2016 sprach
Oberbürgermeister Palmer von 156 leeren Häusern. Dass Leerstand angesicht der
Wohnraumproblematik ein Problem ist, sieht auch ein Leserbrief im Tagblatt, der
bereits 2012 die Gartenstraße 7 ins öffentliche Licht rückt mit der Frage: „Wo sind die Hausbesetzer?“ Dieser löste eine Debatte aus und führte
schließlich 2016 zum Erlass des Zweckentfremdungsverbots. Es legt fest, dass
Wohnungen nicht länger als sechs Monate leer stehen dürfen –
sonst droht eine
Geldstrafe von bis zu 50.000€.
Weshalb
gilt diese Zweckentfremdungssatzung nicht für die Gartenstraße 7, zumal das Haus doch anscheinend seit 20 Jahren leer steht?
Video
Axel Burkhardt über die rechtliche Lücke des Zweckentfremdungsverbots
„In den ersten Wochen sind wir überollt worden von einer Welle der Solidarität“- Hausbesetzer August
Audio
Oliver Frank über die Möglichkeit einer Räumung
Gefahr einer Räumung
Im
Gegensatz zu Thea, die ihre Privatsphäre in einer WG in der Weststadt sehr
schätzt, wohnt Clarissa nun seit mehr als sechs Monaten in der Gartensia.
Nachdem er bereits zwei Besetzungen in Tübingen mit anschließender Räumung
miterlebt hat, scheint er eine Räumung der Gartenstraße 7 nicht zu fürchten –
seinen Wohnheimplatz hat er momentan untervermietet, um sich die Miete zu sparen.
Trotzdem müssen die Besetzer/innen zu jeder Sekunde mit einer Räumung rechnen, denn die rechtmäßigen Hausbesitzer/innen könnten
jederzeit Strafanzeige stellen. Warum die Durchsetzung aber letztendlich nicht
so einfach ist, erklärt mir Oliver Frank. Nicht zu überhören ist dabei seine
Überzeugung, dass von Seiten der Stadt Partei ergriffen wird –
zugunsten der
Hausbesetzer/innen.
„Die Erfahrungen, die ich hier in der Gartensia mache, ziehe ich dem Studium entschieden vor.“ - Clarissa (22)
So wohnen die Hausbesetzer/innenThea und August gaben mir in einer Hausführung ein paar Einblicke in die Gartensia*. Um dir die einzelnen Orte im und um das Haus näher anzuschauen, klicke auf die markierten Bereiche folgender Seite – starte am besten mit der Eingangstüre.
*Aus persönlichem Schutz zeigen sich die Personen vor der Kamera nur vermummt.
„Ich wär schon dafür, dass Wohnen dem Kapitalismus sozusagen entzogen wird und dass wir uns Wohnraum selber auch aneignen und organisieren können.“- Marc Amann
Audio
Kulturwissenschaftlerin Gesa Ingendahl über Hausbesetzungen als Protestmittel in den 70/80er Jahren
„Das Private ist politisch!“
– unter diesem Motto stellten die neuen sozialen Bewegungen in den 1970er Jahren die Unterscheidung zwischen dem Privaten und Öffentlichen immer mehr in Frage und so wurden auch die linksalternativen Lebensformen in Hausbesetzungen zum politischen Protest gegen herkömmliche Strukturen. Gesa Ingendahl befasste sich im Studienprojekt "Protest! Stricken, Besetzen, Blockieren in den 1970er/80er Jahren" mit Tübinger Protestbewegungen und erläuterte, wie sich Protest im Alltag äußern kann: „Protest kann auch sein, dass man gestrickte Pullis trägt, dass man Fahrrad in der Stadt fährt, (…) dass man im Gemeinderat sitzt und eben nicht Schlips und Krawatte trägt.“ So gehören auch Hausbesetzungen und Wohnprojekte damals wie heute zu den beliebten Mitteln des Protest, um für flache Hierarchien, kollektive Selbstorganisation und die Abgrenzung von Bürokratie und Staat einzustehen.